HAFENLESUNG: interview with Emilie Girardin

HAFENLESUNG: interview with Emilie Girardin

Die Hafenlesung hat die Ehre, für Dein neuestes Projekt im Rahmen des 50-jährigen Jubiläums der Deutsch-Polnischen Gesellschaft am 18. August Gastgeber zu sein. Kannst Du uns etwas über Dich und Deine Verbindung zu dieser historischen, kulturellen Beziehung erzählen?

Die Deutsch-polnische Gesellschaft setzt sich als Zivilgesellschaft seit 50 Jahren für Begegnungen zwischen Deutschen und Pol:innen ein: sie organisiert kulturelle Veranstaltungen, Reisen nach Polen, Diskussionen, und setzt sich für politische Bildung sowie Klimaschutz in beiden Ländern ein. Es ist eine Organisation, die wichtige Ziele verfolgt und von Menschen belebt wird, die seit mehr als 30 Jahren für die Verständigung und Versöhnung zwischen Deutschland und Polen arbeitet, und somit viele Phasen der politischen Beziehungen zwischen den beiden Ländern erlebt haben. Nun bräuchte der gemeinnüztige Verein für die Organisation des Jubiläums ein bisschen frischer Wind in den Segeln und dafür wurde ich angefragt. Aber unsere Zusammenarbeit ist eigentlich 2019 entstanden, als ich mich dem Verein gewendet habe, um Hilfe für die Produktion von meinem ersten Film “The Last To Leave Are The Cranes” zu bekommen. Aus dieser Zusammenarbeit ist eine tolle Freundschaft entstanden und aus dieser Freundschaft meine Teilnahme an den Vorbereitungen für das Jubiläum. Natürlich ist dies auch aus persönlichen Interesse entstanden: ich finde die Möglichkeit, polnische Kunst und Kultur in Hamburg vorzustellen sehr wichtig. Nicht nur weil die polnische Community die Grösste von binneneuropäischen Migrant:innen in Hamburg ist, sondern weil für viele Menschen in Deutschland das Wissen und/oder Interesse für Polen eher mangelhaft ist. Zuzüglich zu unserer gemeinsamen Lesung habe ich auch mit Jakub Miluch eine Filmreihe polnischer Klassiker im Metropolis kuratiert, sowie eine Filmreihe zeitgenössischen polnischen Kino im B-Movie; eine Ausstellung eines Warschauer Künstlerkollektivs im Frappant; sowie eine Kurzfilmwanderung in Katowice und Hamburg in Kooperation mit dem Verein “A Wall Is A Screen”. Also gibt es die Möglichkeit diesen Herbst viele Fazetten der polnischen Kunst zu entdecken! Mein persönlicher Bezug zu Polen ist dass meine Mutter aus Bytom, in der Nähe von Katowice, stammt. Da ich aber in der Schweiz aufgewachsen bin, habe ich viele (kulturelle) Bezüge verpasst. In dem Sinne versuche ich auch, Teil meiner kulturellen Identität mich selbst und anderen näher zu bringen.

Dein Hintergrund ist im Theater – sowohl als Regisseurin als auch als Produzentin –, wobei Deine früheren Projekte eine Vielzahl von Medien wie Street Performances, Workshops, Musikveranstaltungen und Film eingesetzt haben. Auf Deiner Webseite betonst Du die Wichtigkeit der interkulturellen Kommunikation. Warum hältst Du das für wichtig und warum hast Du Literatur als Medium für diese Veranstaltung gewählt?

Was der gemeinsame Nenner dieser Vielzahl von Medien ist, ist die Tatsache, dass sie immer einen Raum für Begegnungen eröffnen. Ich erhoffe mich, dass Kunst als Katalysator für menschlische Begegnungen fungiert und gleichzeitig einer/einem die Augen über was noch Ungewusstes öffnet, also einer/einem einen neuen Einblick auf der Welt gibt. Literatur, in der Form wie ihr sie in der “Hafenlesung”-Reihe versteht, ist eine Einladung zu einer feierlichen Zusammenkunft um sich auf verschiedenen Sprachen gegenseitig zuzuhören und eine besondere Erfahrung zu machen. Ich finde es wichtig, dass solche Räume erschaffen werden, in denen Menschen Zugang zu anderen Geschichten, Weltansichten, Sprachen bekommen, und freue mich, mit euch diesen Raum für eine diverse Gemeinschaft zu gestalten. Literatur war immer ein wichtiger Bestandtteil meines Lebens: mit fünf wollte ich schon Schriftstellerin werden und hatte dafür – ich konnte noch nicht schreiben – meine eigene Schrift entwickelt. Jetzt schreibe ich eher für Film, weil mir den gemeischaftlichen Prozess des Filmemachens mehr anzieht. Ich finde es aber sehr bewunderswert, dass Menschen Welten an ihren Schreibtischen erschaffen. In dem Fall haben wir mit Historikern zu tun, die viel Feldarbeit, Recherchearbeit und Interviews führen und somit Aspekte der Geschichte einer besonderen Region mit ihren Worten neu beleuchten: das Festhalten und neu Beschreiben dieser Geschichte(n) finde ich sehr wichtig, da sie dazu beitragen, ein komplexes, tiefes und diferenziertes Verständnis von historischen Begebenheiten zu entwickeln und somit den Weg zu einem besseren Umgang mit der Gegenwart ebnet. Ich finde auch, dass die literarische Qualität diesen Werken einen Zugang zu diesen Themen ermöglicht, die reine “Fachliteratur” nicht ermöglichen würde: durch die emotionale Beteiligung können wir unsere Lesenden/Zuhörenden anders erreichen.

Zwei der eingeladenen Autoren der Lesung – Zbigniew Rokita und Dariusz Zalega – stammen aus Schlesien, einer überwiegend polnischen Region mit historisch fließenden Grenzen, die in Deutschland und Tschechien übergehen. Warum wolltest Du dich bei der Veranstaltung auf diese bestimmte Region konzentrieren?

Da Teil meiner Familie aus dieser Region kommt, habe ich einen starken Bezug zu diesem Ort. Ich habe Dariusz bei den Recherchearbeiten für meinen ersten Film “The Last To Leave Are The Cranes” kennengelernt. Der Film ist eine Auseinandersetzung mit der deutsch-polnischen Geschichte des XXen Jahrhunderts anhand der Perspektive zweier jungen Chileninnen und befasst sich auch viel mit Schlesien. 2020 ist mein Film fertiggestellt worden und das Buch von Zbigniew rausgekommen. Sein Buch hat mich sofort fasziniert und ich habe auch viele Problematiken wiedererkannt, mit denen ich mich bei der Recherche für meinen Film auch befasst hatte. Ich finde die Geschichte Oberschlesiens einfach wahnsinnig spannend: es ist eine Region die Mitten in Europa steht, auf der den Einfluss von den drei grossen Imperien (Russland, Preussen, Österreich-Hungern) spurbar war, die mehrsprachig und multikulturell war. Ich denke auch, dass die Geschichte der Region prägend für die deutsch-polnische Beziehungen ist und in dem Sinne wichtig zu erzählen sei.

Wenn es ein bestimmtes Thema oder eine Idee gäbe, die Du dem Publikum der Veranstaltung vermitteln möchtest, was wäre das?

Beide Autoren setzen sich mit der Geschichte dieses besonderen Teil Polens auseinander und erzählen differenziert über historischen Fakten. Dariusz Zalega, indem er sich auf scheinbar kleine Dinge konzentriert: er sammelt Geschichten über Menschen, Ereignisse, Erscheinungen, die mit der Geschichte Oberschlesiens in Verbindung stehen, und ein kaleodoskopisches Einblick im Alltag der Menschen der Region, die in außergewöhnlichen Zeiten und Situationen handeln müssten, gibt. Zbigniew Rokita verflechtet Geschichte mit der Geschichte seiner Familie, um einen Grund für die Darstellung zu bilden. In jener Familiengeschichte wird das gesamte 20. Jahrhundert der Region dargestellt: von den schlesischen Aufständen bis zu den Wehrmachtssoldaten, von Menschen, die die schlesische Grenze der Zwischenkriegszeit getrennt hat bis zu den Auswanderern in die BRD.
Für mich bilden ihre Erzählungen eine Art Kontranarrativ zum Métarécit der Nationen. Sie zeigen die Lücken, Brüche und Widersprüche in einer narrativen Kontinuität der Gründungsmythen der Nationalstaaten, die trotz allem nicht geglättet werden können. Deswegen sind für mich solche Geschichten/Erzählungen so wichtig: sie erinnern uns immer wieder daran, dass die Strukturen, in denen wir leben, ein Konstrukt ist, das es zu hinterfragen gilt.